23. August 2022: Vortrag anlässlich des 100. Todestags von Sebastian Walter
„Es war seine Leidenschaft, verzweifelten und armen Menschen zu helfen“. Eine solche Würdigung dürften nicht allzu viele Industrielle in Nachrufen sozialistisch orientierter Zeitungen erfahren. Dem Fabrikanten Sebastian Walter wurde diese Ehre jedoch im amerikanischen Arbeitertagblatt „Milwaukee Leader“ zuteil. Vor genau 100 Jahren, am 23. August 1922, verstarb der Pionier des amerikanischen Emaillierhandwerks in Milwaukee. Aus diesem Anlass erinnerte der Heimat- und Kulturverein im Rahmen eines Vortragsabends an den einst prominenten und großzügigen „reichen Onkel aus Amerika“, für den ein Ober-Flörsheimer kürzlich – in Anspielung auf einen aus Alzey stammenden Milliardär und Wohltäter seiner Heimatstadt – die recht treffende Bezeichnung „de Flerschemer Kipp“ prägte.
Untermalt durch zahlreiche Abbildungen zeichnete Dr. Helmut Schmahl das Leben Sebastian Walters nach. 1866 wanderte der aus bescheidenen Verhältnissen stammende Siebzehnjährige zu Verwandten nach Milwaukee im US-Staat Wisconsin aus. Dem ehrgeizigen und geschickten Spenglergesellen bot die aufstrebende Industriestadt am Michigansee ein reiches Betätigungsfeld. Nach verschiedenen beruflichen Stationen war Walter seit 1880 für die Kieckhefer Brothers Company tätig, die Geschirr und andere Dinge aus Eisenblech herstellte. Bald wurde er Teilhaber des Unternehmens, das aufgrund seiner Mechanisierung rasch expandierte und 1890 knapp 1000 Beschäftigte hatte. Die Produktion von Emaillegeschirr erwies sich als besonders lukrativ angesichts der großen Nachfrage unter der durch Einwanderung rasch wachsenden Bevölkerung der USA. 1899 ging der Betrieb im weltgrößten eisenblechverarbeitenden Konzern auf. Walter, mittlerweile Millionär, zog sich daraufhin weitgehend aus dem Geschäftsleben zurück. Sein Interesse galt nun der Lokalpolitik. Er war über ein Jahrzehnt Mitglied des Stadtrats und als solcher mit Aufgaben wie der Überwachung der zahlreichen Saloons der Stadt, der Schulverwaltung sowie der Vorbereitung der Besuche des preußischen Prinzen Heinrich und des US-Präsidenten Theodore Roosevelt im Jahr 1902 betraut. Weiterhin unternahm Walter mit seiner Ehefrau Henrietta, Tochter sächsischer Einwanderer, mehrere Europareisen, auf denen das kinderlose Ehepaar auch Station in Ober-Flörsheim machte.
1901 weihte Sebastian Walter vor dem Rathaus seiner Heimatgemeinde ein von ihm gestiftete Denkmal für die Veteranen des Deutsch-Französischen Krieges von 1870/71 ein. In seiner Ansprache legte er dar, der Gedanke, dass er vielleicht selbst auf französischen Schlachtfeldern begraben sein könne, habe ihn bewogen, „dieses Denkmal den Kriegern, seinen Jugendkameraden, zur Ehre und der ganzen Gemeinde aus Liebe zu stiften“. Am Sockel des bis heute ortsbildprägenden Denkmals befindet sich eine Tafel, die an den Stifter erinnert. Bei einem weiteren Besuch 1910 vermachte Walter unter dem Namen „Sebastian-Walter-Stiftung“ der Gemeinde ein Kapital von 10.000 Mark. Der größte Teil – jährlich 100 Mark – war der Krankenschwesternstation des Dorfes zugedacht. Bis zu 70 Mark sollten für die Unterstützung hilfsbedürftiger Kinder der „Kleinkinderschule“ verwendet werden. Weitere Beträge waren u. a. für Hilfsbedürftige, die Anschaffung von Schulbüchern, die Unterhaltung des Denkmals sowie für die Verteilung von Brezeln an die Schuljugend am Geburtstag des Stifters vorgesehen. Zum Dank ernannte die Gemeinde Walter zum Ehrenbürger.
Bei einem weiteren Deutschlandbesuch 1914 wurden die Eheleute Walter vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs überrascht. Nur mit Mühe gelang ihnen die Rückreise in die USA. Sebastian Walters letzte Lebensjahre waren von Krankheit gezeichnet. Am 23. August 1922 verstarb er im Alter von 74 Jahren. Seine Witwe überlebte ihn 20 Jahre. Ihr stattliches Grabmal auf dem Forest Home Friedhof gilt als eines der künstlerisch wertvollsten in ganz Milwaukee. Dem Historiker Brian Fette zufolge wurde es von dem aus Weinolsheim eingewanderten Bildhauer Charles Lohr geschaffen. Fette sorgte auch für einen Gruß aus Milwaukee der besonderen Art. Wenige Stunden vor der Veranstaltung erhielt der Vortragende ein Foto, das am gleichen Tag an Walters Grab aufgenommen wurde. Es zeigt Angehörige der Friedhofsverwaltung, die – wie einst in Ober-Flörsheim Sitte – mit Brezeln in der Hand an den Wohltäter erinnerten. Im Anschluss an den Vortrag präsentierte eine Anwesende eine alte Brosche, in die eine Goldmünze eingearbeitet war. Das Geldstück hatte ihre Großmutter von Walter geschenkt bekommen, als sie anlässlich eines Besuchs ein Gedicht aufsagte.
Sebastian Walters Stiftung wurde durch die Inflation nach dem Ersten Weltkrieg wertlos und geriet in Vergessenheit. Heute erinnern noch das Denkmal vor dem Rathaus, der Straßenname Walterplatz, sein Geburtshaus im Saurechgässchen sowie einige Ausstellungsstücke im Heimatmuseum an den Deutschamerikaner, der trotz seines Erfolges in der amerikanischen Großstadt Milwaukee seinem Heimatdorf und dessen Bewohnern stets verbunden blieb.
Digitalisierung der Schrift „Das Ober-Flörsheimer Kriegerdenkmal und sein deutsch-amerikanischer Stifter Sebastian Walter“ (2001)
https://archive.org/details/helmut-schmahl-kriegerdenkmal-ober-floersheim-stifter-sebastian-walter-2001/mode/2up
A short biography of Sebastian Walter (in English) can be found on the website of the Max Kade Institute for German American Studies, University of Wisconsin, Madison
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